Tuesday, December 11, 2007

Konnopkes Zauberberglektüre

Hörbücher sind für mich nutzlos, weil man nichts anstreichen und das Tempo der Lektüre nicht bestimmen kann. Beim Selberlesen lässt sich aber noch einiges rausholen. Das ist auch nötig, denn nimmt man nur den "Zauberberg"-mit seinen 1000 Seiten zweifellos eines der dickeren Bücher-, braucht man, wenn man für die
Lektüre pro Seite drei Minuten rechnet, 50 Stunden, also mit Pausen zum Regnerieren zehn Lesetage. In zehn Tagen könnte man 90 Stunden arbeiten gehen und dabei 750 Euro verdienen, die einem durch die Lektüre des Zauberbergs entgehen. Für das Geld könnte man 500 Brote kaufen. Wenn man bedenkt, dass man 42 Tage ohne zu essen überleben kann, würde man mit 500 Broten fünf Jahre durchkommen. Die Lektüre des "Zauberbergs" kostet und also fünf Jahre unseres Lebens. (...)

Trotzdem tue ich mich schwer damit, fünf Jahre meines Lebens für ein einziges Buch zu opfern. Um auch die letzten Zweifel auszuräumen, befrage ich den Mann von der Straße. Im Winter kann man ihn an Imbissständen überraschen. Ich frage also den Wurstverkäufer bei Konnopkes: Haben Sie den Zauberberg gelesen? Natürlich, das war in der DDR schon im Kindergarten Pflichtlektüre. Und können Sie das Buch empfehlen? Es hat zumindest meine Sicht auf den Niedergang des Bürgertums geprägt, der mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs einen Höhepunkt erreicht hat. In der Figurenkonstellation von Hans Castorp, der für das verirrte Deutschland steht, Settembrini, dem Vertreter der Aufklärung, und Madame Chauchat, der von Castorp begehrten Russin mit den asiatischen Wangenknochen, hat Thomas Mann seine Sicht auf die Stellung Deutschlands als zwischen den Polen Kunst und Zivilisation, Asien und Europa, pendelnder, zutiefst naiver Nation symbolisiert. Ich fand das sehr gelungen und hätte es jedenfalls nicht besser gekonnt. Sie würden die Lektüre des Buchs also uneingeschränkt empfehlen? Nicht nur das, ich habe es sogar für meine Kunden zur Bedingung erklärt, zumindestens einmal reingeschnuppert zu haben."

Ich drehe mich zweifelnd um. Hinter mir in der Schlange steht ein Mann mit einer kleinen, braunen Bierflasche in der Hand. Ich habe Angst vor ihm. Sie meinen, alle, die hier essen, haben in den Zauberberg reingeschnuppert? Sicher. Das ist mein Beitrag zum Kulturstandort Deutschland. Ich frage den Mann mit der Bierflasche:"Können Sie sich an irgendeinen Satz aus dem Buch erinnern?" "Warten Sie mal, eine Stelle, die mir immer gefallen hat, war: "So kam, was kommen musste, und was hier zu erleben Hans Castorp noch vor kurzem sich nicht hätte träumen lassen: der Winter fiel ein, der hiesige Winter, den Joachim schon kannte, da der vorige noch in voller Herrschaft gewesen, als er hier eingetroffen war, vor dem aber Hans Castorp sich etwas fürchtete, obgleich er sich ja bestens dafür gerüstet wusste." Ich fand das gut gesagt. Wir fürchten doch alle den Winter, obwohl wir bestens dafür gerüstet sind.

Jochen Schmidt: Bigger than others. Wie viele Bücher muss man lesen? Wie lange dauert das? Und zählt wirklich jedes Wort?, in: Zitty, Das Hauptstadtmagazin. 24/2007. S.15f.


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