Jedenfalls schien es mir der richtige Augenblick zu sein, endlich die Chelsea-Hotel-Kassette zu hören, die mir mein Vater mitgegeben hatte. Ich stellte den Sony-Recorder auf den Tisch, legte die Kassette ein und nahm die kleine Pappe aus der Plastikschachtel, auf die mein Vater in seiner Doktorschrift die Titel eingetragen hatte. Dann drückte ich auf den Startknopf. Es war eine Enttäuschung, natürlich, es war genau die Musik, vor der ich mich gefürchtet hatte. Jammermusik. Ich wollte zum nächsten Titel skippen, aber es war ja eine Kassette, also hörte ich mir den ganzen ersten Song an, die nörgelnde Stimme von Bob Dylan, die Mundharmonika, alles. Dann kam Jimmy Hendrix, ein endloses Rumgeschrammel auf der Gitarre, Leonard Cohen klang wie ein Moderator vom Spreeradio, Joni Mitchell wie Minnie Mouse, die Sex Pistols wie besoffene Herthafans, die Doors wie eine Nachtbarkapelle. Ich kam mir vor, als wäre ich in einen Tanzabend meiner Eltern geplatzt.
Ich sah über den Recorder hinaus in den Wald und dachte daran, wie mir mein Vater mal ein Fußballspiel-WM-Spiel gezeigt hatte, das er im Dritten Program aufgenom-men hatte. Es war Deutschland gegen Italien, irgendwann in den 70er Jahren, angeblich das beste Spiel aller Zeiten. Es war unfassbar langsam, niemand bewegte sich, sie standen herum und spielten sich den Ball zu wie bei einem Kickfußballspiel. In dem Moment, in dem ich dazukam, spürte mein Vater das auch, glaube ich. Aber er ließ sich nichts anmerken, wie ich auch nicht.
Genauso war das jetzt, nur dass mein Vater nicht dabei war. Kurz bevor John Lennon an der Reihe war, dachte ich daran, den Recorder auszuschalten, (...)
(Alexander Osang, Lennon ist tot, Fischer 2007, S. 195f.)
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